Ich kenne Friedrich Cerha seit Mitte der 80er Jahre. Vermutlich war es HK Gruber, der das Ensemble Modern, das ich seinerzeit managte, mit ihm bekannt machte. In den beiden Keintaten und Eine Art Chansons hat er Nali Gruber einen außerordentlich attraktiven Chansonnier-Part zugedacht, den dieser immer wieder aufführt. Wir luden Friedrich Cerha bald auch als Dirigent ein und gastierten mit ihm unter anderem in zwei Konzerten bei den Salzburger Festspielen 1988. In den 90er Jahren im Wiener Konzerthaus lernte ich den Komponisten noch besser kennen. Immer wieder kamen kleinere und größere Werke von ihm zur Aufführung. In besonders lebendiger Erinnerung ist mir die Aufführung seiner Langegger Nachtmusik III und sein Dirigat eines Webern-Programms mit dem Klangforum.
Inzwischen arbeiten wir schon seit 2005 für Friedrich Cerha, dessen 80. Geburtstag ein Jahr später mit vielen Konzerten gefeiert wurde. Ich hatte erwartet, dass es in erster Linie um Promotion für das vorliegende Lebenswerk dieses außerordentlich produktiven Komponisten ginge, der in Österreich unbestritten als führender Komponist seines Landes gilt, aber außerhalb viel weniger bekannt ist. Umso überraschter war ich, dass in den folgenden zehn Jahren über 50 größere und kleinere Orchesterwerke entstanden, jedes von ihnen ein eigenes Meisterwerk, meist zu Zyklen zusammengefasst: Momente (Uraufführung: BR München 2006), Berceuse céleste (RSO Stuttgart 2007), Instants (WDR Köln 2009), Kammermusik für Orchester (Musikverein Wien 2010), Like a Tragicomedy (BBC Manchester 2010), Tagebuch für Orchester (HR Frankfurt 2014), Drei Orchesterstücke (WDR Köln 2014), Nacht (Donaueschingen 2014), Bagatelle (Bamberg 2016), Elf Skizzen für Orchester (Konzerthaus Berlin 2016), Drei Sätze für Orchester (Musikverein Wien 2016), Eine Blassblaue Vision für Orchester (Salzburger Festspiele 2016), Drei Situationen für Streichorchester (Wien Modern 2018), dazwischen das Violinkonzert für Ernst Kovacic (Konzerthaus Wien 2005), Aderngeflecht für Bariton und Orchester (mit Georg Nigl, Steirischer Herbst Graz 2007), das Klarinettenkonzert für Andreas Schablas (2008), das Schlagzeugkonzert für Martin Grubinger (Salzburg 2009), abgesehen von der „musikalischen Farce“ Onkel Präsident (Prinzregententheater München 2013) und einer großen Zahl von Kammermusik- und Ensemble-Werken.
Die Arbeit für Friedrich Cerha erwies sich als grundverschieden von der für alle anderen Komponisten. Normalerweise besteht unsere Aufgabe darin, neue Aufträge zu finden, zu verhandeln, in Verträge zu gießen und in die Arbeitspläne unserer Komponisten einzubauen. Bei Friedrich Cerha ist es genau umgekehrt. Sein Arbeitsplan – falls es so etwas gibt – ist, soweit ich weiß, noch nicht einmal seiner Frau bekannt. Friedrich Cerha kommt es nicht auf Kompositionsaufträge an – er komponiert, inspiriert durch das Nachdenken über Musik, durch Begegnungen mit Freunden, Musikern, anderen Künstlern, durch Kunst und Literatur. An manchen Werken arbeitet er jahrelang, andere kommen ihm im Traum und müssen noch in derselben Nacht festgehalten werden. Und wenn ein Werk fertiggestellt ist, erzählt er es seiner Frau, die uns die freudige Nachricht überbringt, meist auch schon mit Titel und präzisem Timing. Wir müssen uns dann nur noch um den Auftrag und die Uraufführung kümmern, die meist erst Jahre später erfolgen kann.
Erst vor ein paar Jahren besuchte ich die Cerhas in ihrem Sommerhaus in Langegg, wo sie in der Regel das Sommer-Halbjahr verbringen, und verstand besser, wie Friedrich Cerha an diesem stillen, abgeschiedenen Ort mit weitem Blick über eine beschauliche Hügellandschaft zu einer solchen Produktivität finden kann. Kurz bevor ich zu meinen Kindern nach Wien zurückfahren wollte, meinte Frau Cerha: „Jetzt musst du ihm aber noch deine Bilder zeigen.“ Ich hatte eine Ausstellung mit ein paar Bildern in einer Grazer Galerie gesehen und wusste daher von seiner Malleidenschaft. Umso überraschter war ich, als wir die beiden Treppen hochgestiegen waren und ich einen Raum erblickte, der das gesamte Dachgeschoss ausfüllt und bis auf den kleinsten Platz mit Bildern unterschiedlicher Größe ausgefüllt ist. Fasziniert betrachtete ich einige davon, musste mich aber damit abfinden, dass hier viele große Gruppen von Werken versammelt waren, denen ich an diesem Abend unmöglich gerecht werden konnte. Ich kann den Wert dieser Kunst nicht beurteilen, aber die Meisterschaft, mit der hier die unterschiedlichsten Materialien zu Bildern verarbeitet sind, die stets auch als Skulpturen betrachtet werden können, ist frappierend. Es handelt sich klarerweise um abstrakte Kunst, die doch meist gegenständlich inspiriert ist. Eine zeitlose Kunst, die aus der sehr persönlichen Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Material entsteht.
„Sie malen also genauso viel, wie Sie komponieren“, stellte ich überrascht fest. „Ja, ich bin meist mit drei Bildern beschäftigt – zwei müssen ja immer erst trocknen, bevor sie weiter bearbeitet werden können.“ „Und das seit Jahrzehnten – wie viele Ausstellungen haben Sie denn schon gegeben?“ „Eine haben Sie ja gesehen, damals in Graz. Und dann gab es noch eine Gruppenausstellung in Salzburg.“ „Und das war’s?“ Die Antwort, die hierauf kam, lässt mich seitdem nicht mehr los: „Wenn es niemanden gegeben hätte, der sich um meine Kompositionen gekümmert hätte, wäre es damit heute genauso.“
Der Text erschien erstmals 2015 im Jubiläums-Magazin anlässlich des 15jährigen Bestehens von Karsten Witt Musik Management.