Tagebuch und Orchesterstücke: 2014 kamen zwei Orchesterwerke von Friedrich Cerha kurz hintereinander zur Uraufführung.

(zuerst veröffentlicht im Februar 2014)

Zwar gibt es kurz vor seinem 88. Geburtstag eine Terminhäufung in Friedrich Cerhas Kalender, dies dürfte dem Beinahe-Jubilar in diesem Falle allerdings recht gelegen kommen: Die beiden anstehenden Uraufführungen finden nämlich nur gut 150 km Luftlinie und weniger als anderthalb Zugstunden entfernt voneinander statt. An der Alten Oper Frankfurt hebt das hr-Sinfonieorchester unter Andrés Orozco-Estrada, der mit dem Konzert seine Visitenkarte als designierter Chefdirigent des Orchesters abgibt, am 6. Februar 2014 Tagebuch aus der Taufe. Tags darauf sind an der Kölner Philharmonie die Orchesterstücke erstmals zu hören, interpretiert vom WDR Sinfonieorchester unter der Leitung von Jukka-Pekka Saraste.

Seit Ende der 50er Jahre prägte Friedrich Cerha in seiner Heimat Österreich die Musikwelt durch seine Kompositionen ebenso wie durch seine Arbeit als Dirigent und Mitbegründer des Ensembles die reihe. In seinem Heimatland gilt er deshalb schon lange als Doyen der Neuen Musik. Im Ausland war er währenddessen in erster Linie für die kongeniale Fertigstellung von Alban Bergs Oper Lulu bekannt. Die internationale Wahrnehmung dieses großen Komponisten hat sich allerdings in der letzten Dekade durch ein beeindruckendes Spätwerk komplett gewandelt. Orchesterwerke wie Instants (WDR Symphonieorchester), (BBC Philharmonic Orchestra) und (ORF Radio Symphonieorchester), Solokonzerte wie das (Martin Grubinger, Mozarteumorchester Salzburg) und seine 2013 am Münchener Staatstheater am Gärtnerplatz in Zusammenarbeit mit der Volksoper Wien uraufgeführte Oper zeugen von ungeheurer Schaffenskraft. Gekrönt wurde Cerhas internationaler Erfolg 2012 durch die Verleihung des Ernst von Siemens Musikpreises.

In diesem Zuge hat auch eine jüngere Generation von Musikern seine älteren Werke für sich entdeckt. Geradezu euphorisch äußern sich Komponistenkollegen wie Johannes Maria Staud über den Orchesterzyklus Spiegel: „Was mich heute nach wie vor verblüfft, ist, wie frisch und unverbraucht, visionär und mitreißend diese Musik rund fünfzig Jahre nach ihrer Entstehung noch immer klingt. Die kompositorische Kompromisslosigkeit und Ökonomie, die Innovation in Notation und Orchestration gehen einher mit einem unglaublichen Reichtum an zarten und irisierenden, sich zusammenballenden und eruptiven, bizarren und unvergesslichen Momenten.“ Elena Mendoza lernte das Werk erst durch die bei KAIROS erschienene Gesamteinspielung kennen. In ihrer Begeisterung für dieses Werk bedauert sie, es erst so spät entdeckt zu haben, denn ihre kompositorische Entwicklung wäre ansonsten wohl anders verlaufen.

Dass er in seinem hohen Alter Jahr für Jahr zuverlässig ein Werk nach dem anderen zu seinem Oeuvre fügt, hat Friedrich Cerha oft mit der ihm eigenen sanften Ironie kommentiert. So manches Mal mögen die Besucher seiner Uraufführungen schon vermutet haben, sie hörten nun das alles resümierende letzte große Werk. Die Orchesterstücke bieten nun wieder Anlass dazu, bezieht sich Cerha in ihnen doch explizit auf den Lebenskreis: „2006 war ich 80; ein Alter, in dem man sich gedrängt fühlt, nachzudenken, wie sich die Welt während eines langen Lebens gewandelt hat, wie sie einen selbst verändert hat und wie man sie im Verlauf seines Lebens anders sieht. Ich hatte die Vorstellung von drei Orchesterstücken im Kopf, die mit diesen Gedanken zusammenhängen“, erklärt er zur Entstehung des Werkes.

Ausgangspunkt war die Berceuse céleste, die bereits 2008 vom RSO Stuttgart unter Leitung von Eliahu Inbal uraufgeführt wurde. Dieses erste der bezeichnet er als „frei von bedrückender Erdenschwere; es hat etwas von kindlicher Naivität, von einem Sein, in dem alles Erleben erst beginnt, das noch nicht urteilt, noch nicht scheidet in Kategorien von Werten“. Zwischen diesem Wiegenlied und dem Tombeau überschriebenen Stück, das sich mit dem Wandel zum Tod hin beschäftigt, liegt ein Stück voller Bewegtheit, Brüche, Erschütterungen, von Cerha „ungeachtet seiner Dauer ein wenig satirisch genannt“.

Wer die Gelegenheit hat, gleich beide Uraufführungen zu besuchen, bekommt mit Tagebuch ein den Orchesterstücken verwandtes Werk zu hören, das kurz nach deren Vollendung entstand. Als „durchsichtig im Satz und leicht fasslich“ beschreibt Friedrich Cerha diese kurzen Stücke. „Tagebuch heißt die Komposition, weil fast jedes Stück an einem Tag entstanden ist“, erläutert er.

Nina Rohlfs, 02/2014

    © Photo Manu Theobald