Chor a cappella
Neben der Ausarbeitung meiner Klangflächenkompositionen von 1959/61 hat es mich ab 1962 gereizt, aus der im Material puristischen Welt der Fasce und Spiegel auszubrechen. Im Gegensatz zur Collage, die Bruch und Verfremdung zu einem wesentlichen Erlebnisinhalt macht, war mein Interesse darauf gerichtet, Heterogenes, „Störendes“ zu erfinden und funktionell in einen Organismus einzubinden.
Vielleicht zu wohl um weitere Möglichkeiten der Arbeit mit Massenstrukturen wissend, die mir auch als Dirigent allenthalben begegnet sind, hat mich gleichzeitig eine immer größere Sehnsucht nach Transparenz und sensitiv kontrollierten Beziehungen zwischen klar formulierten Einzelelementen erfasst. Nach dem indirekten Abbau einiger Tabus in der neuen Musik in Exercises oder Catalogue des objets trouvés habe ich Bezüge zu traditionsgebundenem Material, die angesichts bestimmter Gestaltungsintentionen zu verschleiern, aber nicht grundsätzlich zu umgehen sind, zunächst betont, wenngleich mit von Werk zu Werk bewusst wechselnden Problemstellungen, angesprochen. Das hat mein Bewusstsein dafür vertieft, was bestimmte Materialkonstellationen prinzipiell herzugeben imstande sind und auf eine durch keinen intellektuellen Exkurs zu ersetzende Weise zu einer Konzentration auf den mir wichtigen Begriff von Komposition im eigentlichen Sinn geführt. Diese Arbeiten haben keinen neuen Stil gebracht, aber wichtige Voraussetzungen für meine weitere Entwicklung geschaffen.
Verzeichnis war eine der ersten von ihnen. Ich habe mich darin auch wieder erstmalig über meine langjährigen Reservate gegenüber dem „Vertonen“ eines durchlaufenden Textes hinweggesetzt, wozu mir allerdings gerade dieser eine meine Situation erleichternde Möglichkeit bot. Ich fand ihn im österreichischen Almanach „Protokolle 69“. Es handelt sich um ein rein reihendes Verzeichnis der in Würzburg während eines bestimmten Zeitraums wegen Hexerei hingerichteten Personen. Sein nicht reflektierender Charakter wirft die unverändert aktuelle Frage, wie lange Menschen einander verurteilen und morden wollen, mit besonderer Deutlichkeit auf. Nach dem gesprochenen Datum der Hinrichtungen nimmt der letzte Satz des Textes: „Und seither sind noch viel Brände getan worden" direkt Bezug auf sie. Musikalisch ist der Text so behandelt, dass er nur fragmentarisch voll verständlich wird. Trocken-deklamierendes Sprechen, Legato-Polyphonie in motettischer Technik, mechanisiert wirkende Staccato-Folgen, Sprechgesang, absinkende Glissandi auf einzelnen Worten und glissandierende Vokalisen sind die bewusst heterogenen Stilmittel in der Komposition. Die leiernde Wiederholung bestimmter Passagen entspricht dem Gleichmaß des referierten Grauens ebenso wie die Vielfalt der Mittel, aus dem es immer wieder hervorkommt, auf seine ungebrochene Allgegenwart hinweist.
Friedrich Cerha