Jahrlang ins Ungewisse hinab (Hölderlin)

Titel
Jahrlang ins Ungewisse hinab (Hölderlin)
für Ensemble
Category
Ensemble/Kammerorchester
Ensemble
Dauer
27:00
Anzahl Mitwirkende
24
Besetzung
1 (auch Picc.) · 0 · 1 · Bassklar. · 1 (auch Kfg.) - 2 · 2 · 2 · 0 - S. (4 Spieler) - Hfe. · Klav. · Akk. · Org. - S.- Str. (1 · 1 · 1 · 1 · 1)
Entstehung
1995
Uraufführung
1997-05-14
Wien, Akademie der Wissenschaften · Julie Moffat, Sopran · Klangforum Wien · Dir.: Friedrich Cerha
Zusatz
Austrian Academy of Sciences for its 150th anniversary
Auftraggeber
Austrian Academy of Sciences
Kommentare des Komponisten zum Werk

Die gewiss triviale, aber nützlichste Art, eine Hörhilfe zu geben, besteht im Verfahren, die äußere Dramaturgie eines Stückes zu beschreiben und sie - wenn es sein muß - sparsam zu interpretieren. Man möge sich aber vor Augen halten, daß sie nicht bewegender Ausgangspunkt, sondern Ergebnis einer Vielzahl von Prozessen ist, von denen am Schluß einer genauer beleuchtet werden soll.

Das Stück beginnt mit einem fanfarenartigen Abschnitt der sechs Blechbläser über Rührtrommeln. Eine intakte, in sich stimmige Welt wird konstitutiert. Sie zerbricht, aus chaotischer Tiefe beginnt in einem breiten Band nach oben sich drehend eine Art Wellenbewegung, wobei der Abstand der Wellen immer kürzer, die Bewegung innerhalb der Wellen unerbittlich immer dichter wird. "Wie Wasser von Klippe zu Klippe geworfen...." Ein Traum von dieser Wellenbewegung stand am Anfang der Komposition. Am Ende des zweiten Teils steht ein statischer Block von gleichmäßiger Sechzehntelbewegung - ein konti-nuierliches Fließen, eine stehende Flut. Die Bewegung wird ruhiger, undurchsichtiger und mündet in einen Abschnitt, in dem Blöcke von gegenläufigen crescendi und diminuendi sich dramatisch reiben. "Doch uns ist gegeben, auf keiner Stätte zu ruhn." Das Geschehen sinkt kraftlos zurück. Kontemplative Streichermotive beherrschen den nächsten Teil, in dem erinnernd Floskeln aus dem ersten Abschnitt auftauchen und der wesentlich geprägt wird durch eine ruhige Viertel-Bewegung des Soprans. Am Schluß nehmen die Instrumente zunehmend diese Viertel-Bewegung auf und sinken ins Dunkle "Jahr lang ins Ungewisse hinab." (Die Zitate stammen aus Hyperions Schicksalslied von Hölderlin.). Die nach der Uraufführung mehrfach geäußerte Deutung, daß ein immer wieder anhebender und sich verändernder Evolutionsprozeß in einem nicht sentimental-resignierenden, wohl aber reflektierenden Blick auf etwas Wesentliches an unserer Situation heute endet, hat für mich seine Richtigkeit.

Um Interessierten auch einen Blick auf die sehr genau gearbeiteten Vorgänge im längsten, zweiten Abschnitt zu ermöglichen, möchte ich abschließend einige Anmerkungen zum ihm zugrundeliegenden Prozeß geben: Ich entwarf den Tonvorrat für 74 Wellen. Die erste Welle basiert auf fünf Tonhöhen. Deren Zahl steigt in Form einer parabolischen Kurve auf 27 in der 49. Welle und fällt dann langsam wieder auf 20 in der 74. Welle ab. In aufeinanderfolgenden Wellen bleibt immer eine Anzahl von Tonhöhen gleich, eine andere Anzahl ändert sich von Welle zu Welle. Die obere Hüllkurve steigt ziemlich kontinuierlich über die gesamte Strecke an. Die untere erhebt sich anfangs sehr langsam, gegen Ende des Prozesses zunehmend schneller. Der Abstand der einzelnen Wellen verringert sich allmählich von 5.5 Takten auf 1.5. Die Anzahl der Zeitabstände folgt der Fibonacci-Reihe 1,2,3,5,8,13,21 und rückläufig 13,8 etc. (Jede folgende Zahl ist die Summe der beiden vorhergegangen.) Am Anfang des Prozesses herrschen Einzeltöne vor, es gibt nur sporadisch 2-Ton-Gruppen, allmählich werden die durch Cäsuren getrennten, schnell zu spielenden Gruppen umfangreicher und erreichen nach zwei Dritteln der Wellen eine Länge bis zu 26 Tönen. Gegen Ende werden die Gruppen allmählich wieder kürzer. Die Wellentäler, am Anfang eben richtige Cäsuren, werden mit zunehmend geringerem Abstand der Wellen immer seichter und kürzer, bis am Ende des Prozesses die Trennung der Wellen kaum mehr kennbar wird - auch weil sie schließlich den gesamten Ambitus ihres Tonvorrats ausloten.

Etwa ab der 15. Welle deutet sich eine Tendenz an, die sich zunehmend verstärkt: Nämlich, daß die instrumentale Linie einer Welle in der folgenden im Krebs erscheint, freilich modifiziert durch den teilweise veränderten Tonvorrat und andererseits durch variative Veränderungen, wodurch der neuerliche Krebs in der 3. Welle mit der Ausgangswelle verwandt, aber auch vom Gestus her nicht ident ist. Da dieser Vorgang in allen Stimmen und fortwährend geschieht, wird jede folgende Welle gleichsam teilweise wieder auf ihren Ausgangspunkt zurückgeworfen, das charakterliche Profil aber durch die genannten Mutationen allmählich verändert. Was entsteht, ist ein kontinuierliches in sich Kreisen, das sich langsam zielgerichtet vorwärtsbewegt.

Die Wellenbewegung wird durch Massenstrukturen hergestellt, die in proportionaler Notation aufgezeichnet sind und die keinerlei metrische Schwerpunkte erkennen lassen, wenn man nicht die Wahrnehmung der Wellentäler und -scheitel als solche betrachten will. Es gibt insgesamt in diesen Strukturen einzelne kurze Töne, Gruppen von kurzen Tönen, gehaltene Töne und Glissandi. Während die Gruppen im Verlauf des Prozesses an Wichtigkeit gewinnen, verlieren die Einzeltöne, in geringerem Maß auch die gehaltenen Töne, an Bedeutung. Die Glissandi, die am Anfang prägend sind und nach der 15. Welle wie alles andere Geschehen in aufeinanderfolgenden Wellen zunehmend retrograd wiederkehren, verschwinden schließlich im letzten Viertel des Prozesses völlig. Die einzelnen Gestalten haben ihre Funktion lediglich im Rahmen der prozessualen Vorgänge und haben keinerlei individuelle Bedeutung.

Freilich kann sich hin und wieder, vor allem an den Wellenscheiteln, eine Gruppe wie eine Gischtflocke vom Gesamtgeschehen loslösen und sich isolieren. In der 57. Welle tritt zum ersten Mal ein Instrument (Xylorimba), so gut wie unbemerkt, mit einer Sechzehntelbewegung im 2/2-Takt auf. Es folgen all-mählich immer mehr Instrumente, bis nach der 75. Welle das ganze Ensemble sich in Sechzehnteln bewegt.

Von hier weg beginnen einerseits neue Prozesse, andererseits werden alte, wie etwa die Veränderungen im Tonhöhenvorrat, weitergeführt und stellen eine Verbindung im eingangs beschriebenen Gesamt-ablauf des Stücks her.

Friedrich Cerha

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